Das Ende der Gleichheit?
Wie können wir noch von Fortschritt sprechen, wenn nur eine kleine Schicht aus Reichen von ihm profitiert? Ein Bericht, ob in Deutschland die Ungleichheit herrscht.
Quelle: Dan Burton https://unsplash.com/photos/w3TwyZMlfPg
Wer profitiert vom Fortschritt?
Stellen wir uns die Menschheitsgeschichte der letzten hundert Jahre vor. Es genügt ein Blick auf die Entwicklung der Lebenserwartung, um festzustellen, dass die Durchsetzung des Kapitalismus in einigen Bereichen eine enorme Aufwertung der Lebenslage mit sich brachte. Während sich in Deutschland die Lebenserwartung seit 1880 verdoppelt hat(1), müssen Arbeitende heute nur noch halb so viele Stunden pro Woche auf Arbeit verbringen wie vor 140 Jahren(2)(3). Aus diesen Gründen versteht der Historiker Rainer Zitelmann hinter dem Begriff “Kapitalismus” nicht ein ausbeuterisches System, sondern eine wahre Erfolgsgeschichte der Menschheit, die Milliarden Menschen aus absoluter Armut befreit hat(4).
Bleibt die Frage, ob man diese durchweg positive Erzählungen so stehen lassen kann, oder ob mit dem wirtschaftlichen Aufwärtstrend eine tiefgreifende Ungleichheit zwischen den Menschen und ihren Entfaltungsmöglichkeiten zusammenhängt. In jeder Gesellschaft gibt es arme und reiche Personen, doch wie sieht die Ungleichheit in Deutschland heute aus? Ist sie vielleicht so stark, dass sie das Gleichheitsversprechen der Demokratie gefährdet? Mit Ungleichheit sind vor allem materielle Unterschiede in den Lebenssituationen zwischen Menschen gemeint. Sie lässt sich am individuellen Einkommen und Vermögen messen, aber auch die Wohnverhältnisse und die Position im Job sind entscheidend für die eigene Stellung in der Gesellschaft(10).
Vergleicht man das 19. Jahrhundert mit dem 21., fällt die Bilanz zwangsweise positiv aus. Durch freie wirtschaftliche Entfaltung entstand ein Wohlstand, von dem eine breite Masse der Bevölkerung profitiert. Vom Auto über den Kühlschrank bis hin zum Smartphone, alle diese Produkte wurden mit der Zeit für zunehmend mehr Menschen zugänglich. Gleichzeitig entwickelte sich die Idee, dass alle langfristig vom Kapitalismus profitieren. Die Unternehmer*innen würden mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht nur sich selbst bereichern. Das Versprechen war, alle – egal, ob arm oder reich – würden am wachsenden Reichtum teilhaben.
Schaut man sich stattdessen die Entwicklung der letzten 70 Jahre an, darf man ein kritischeres Urteil fällen. So tun es Ökonom*innen und Ungleichheitsforscher*innen wie Thomas Piketty oder Branko Milanović. Sie haben nachgewiesen, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark am wirtschaftlichen Aufstieg profitieren. Ihre Untersuchungen konzentrieren sich einerseits auf die globale Ungleichheit zwischen verschiedenen Ländern, andererseits auf die Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb einzelner Staaten. Ungefähr seit den 1980er Jahren setzt in vielen reichen Ländern eine Ungleichheitsentwicklung ein, aus der die Reichen deutlich mehr Profit schlagen können als die Ärmeren.
Die Erfassung von Ungleichheit
Die World Inequality Database (WID) – ein weltweites Forschungsprojekt zur laufenden Erfassung der Einkommens- und Vermögensentwicklung – zeichnet für Deutschland ein unscharfes Bild ab. Zwar stieg über die letzten Jahrzehnte das nationale Durchschnittseinkommen stark an, sodass theoretisch jede*r Deutsche vom wirtschaftlichen Wachstum hätte profitieren können. Die WID versucht aufzuschlüsseln, wer in der Bevölkerung vom stetigen Wirtschaftswachstum wirklich profitiert. Mit anderen Worten: Gleichen sich kleine und größere Einkommen aneinander an und wachsen beide gleichmäßig mit der Wirtschaftsleistung? Oder verbleiben ärmere Menschen auf ihrem Einkommensstand und ohnehin schon Reiche konzentrieren nur noch mehr Einnahmen auf sich?
Die übliche Methode besteht darin, das gesamte jährliche Einkommen der ganzen Bevölkerung festzustellen und dann herauszufinden wie groß der Anteil ist, den die reichsten 10% der Bevölkerung erhalten: In Deutschland lag ihr Anteil bei etwa 29,6%. Als nächstes kann man sich den Anteil der unteren 50% der Bevölkerung anschauen: Sie bezogen 2018 rund 25,8% des Gesamteinkommens. Das heißt also, dass die Schicht der 10% reichsten Deutschen mehr Einkommen erhält als die gesamte ärmere Hälfte Deutschlands zusammen. Die Ungleichheit – an diesem Verhältnis gemessen – nimmt seit den 1980er Jahren unter großen Schwankungen zu, nachdem sie in den Jahrzehnten davor auf ein historisch niedriges Niveau gefallen ist. Ein noch deutlicheres Bild zeigt sich bei der Verteilung der Vermögen, also dem Einkommen, das über lange Zeit angehäuft wurde. In den letzten Jahren besaßen die reichsten 10% der Bevölkerung 59% des Gesamtvermögens. Der Anteil der ärmsten 50% lag bei verschwindend geringen 3,4%. (5)
Verschiedene Wirtschaftswissenschaftler*innen betrachten Ungleichheit auf verschiedene Weisen. Für viele ist der sogenannte Gini-Koeffizient ein entscheidendes Mittel um Veränderungen der Ungleichheit festzustellen. Dieser Indikator erfasst alle Einkommensschichten. Er vergleicht den Anteil am Einkommen oder Vermögen der einzelnen Menschen der gesamten Gesellschaft miteinander. Besitzen alle gleich viel, liegt der Gini-Koeffizient bei 0. Je größer die Ungleichheit, desto größer die Zahl. In der Theorie kann sie bis zu 1 steigen, dann besitzt ein einziger Mensch alles und alle anderen besitzen nichts. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient für Einkommensungleichheit zurzeit bei ungefähr 0,29. Doch bleibt er eine abstrakte Zahl.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Aline Zucco untersucht in ihrem Verteilungsbericht 2020 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung die deutsche Mittelschicht. Im letzten Jahrzehnt konnte diese breite Bevölkerungsschicht vom Wachstum profitieren. Über der Mittelschicht konnten die Reichen ihre Einkommen deutlich stärker steigern. Schaut man ans untere Ende der Einkommensskala wandelt sich das Bild. Hier befinden sich 2018 die Einkommen der ärmsten 10% gerade einmal wieder auf der Höhe von 2010, nachdem sie zwischenzeitig eingebrochen waren. (11)
Die ungleiche Verteilung der Risiken
Diese ganzen Zahlen wirken sehr technisch, doch machen sie eines klar. In Deutschland herrscht trotz aller Fortschritte enorme Ungleichheit. Und sie verschwindet nicht von allein. Während der Corona-Pandemie verschärfte sich die Situation. Trotz einem Spektrum an Gegenmaßnahmen lassen sich große soziale Verwerfungen nicht verhindern. Kurzarbeitergeld oder Kindergeldbonus halfen alle nicht genug, um größere Teile der deutschen Bevölkerung vor dem Absinken in Armut zu bewahren. Der Paritätische Wohlstandsverband verkündete Ende 2021 den traurigen Stand der Lage: 2020 befanden sich ganze 16.1% der Deutschen in Armut. 2012 waren es noch 15,0%. (6)
Laut Aline Zucco sind durch die Corona-Krise und vor allem die Ukraine-Krise sogar traditionell gut abgesicherte Menschen der Mittelschicht, wie Beschäftigte der Industrie, einer Abstiegsgefahr ausgesetzt. Außerdem gibt es große Lücken im Sozialsystem, wodurch einige Gruppen nur sehr unzureichend vor Jobverlust und wirtschaftlichen Einschnitten geschützt sind. Zum Beispiel werden Selbstständige kaum von der Sozialversicherung abgedeckt. Zucco glaubt, dass „Personen am oberen Einkommensbereich ganz gut wissen, wie sie ihre Risiken durch die Krise abfedern können. Während die unteren und mittleren Einkommensbereiche durch die steigenden Energiepreise sehr stark betroffen sind.“ Mit den jetzigen Krisen werde die soziale Ungleichheit wohl erst einmal stark steigen. Es komme dann auf die Politik an, nachhaltig für eine Umverteilung zu sorgen, die allen Schichten dabei hilft, kommende Krisen durchzustehen.
Mit Blick auf die aktuelle Verteuerung bei Öl und Gas, sowie bei Lebensmitteln werden ärmere Haushalte stärker belastet. Wer wenig hat, den stößt jede Preissteigerung einen Schritt näher ans Existenzminimum. Erst mit den – für alle erkennbar drastischen – Preissprüngen an der Zapfsäule reagiert die Bundesregierung mit einem Entlastungspaket für fast alle Bevölkerungsgruppen. Angesichts dieser Reaktion fällt eines auf: Es handelt sich um einmalige Maßnahmen zur Beruhigung der jetzigen Situation. Allerdings bleiben die anhaltende soziale Ungleichheit und der Armutstrend im Kern unangefochten. Sie verpasst es, ein sozialpolitisches Programm auf den Weg zu bringen, welches die Ungleichheitsbewegung aufhält. Eine Ausnahme bildet die kommende Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro, die langfristig die unteren Löhne anheben wird.
Was Armut und Reichtum in einem Land wie Deutschland für Unterschiedlichkeiten in den Lebensrealitäten bedeutet, sollte die Bundesregierung wissen. Zumindest, wenn sie den hauseigenen Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2020 betrachtet. Mithilfe der Statistik wird klar, was alles mit niedrigem Einkommen einhergeht: Menschen mit weniger Einkommen können sich häufiger die als üblich geltenden Güter wie eine Waschmaschine oder die Heizkosten nicht leisten. Sie haben weniger Wohnfläche pro Kopf zur Verfügung. Sie leiden öfters unter Lärm und Luftverschmutzung, einem schlechteren Gesundheitszustand, sowie fehlenden sozialen Kontakt. (7)
Auf der anderen Seite befinden sich die Superreichen. Seitdem die Pandemie begonnen hat, haben die zehn reichsten Personen Deutschlands ihr Vermögen um 78% gesteigert. Sie besitzen jetzt 256 Milliarden US-Dollar. (8) Wie die Zahlen verdeutlichen, herrschen innerhalb der deutschen Gesellschaft Lebensumstände, die sich mehr und mehr voneinander unterscheiden. Während die einen, jeden noch so schlecht bezahlten Job annehmen, um über die Runden zu kommen, wissen die anderen nicht wohin mit ihrem Geld. Nicht zu vergessen ist, dass zwischen den beiden Extremen eine große Mittelschicht existiert. Sie hat zwar eine gute wirtschaftliche Position, doch ist unsicher, ob sie ihre relativ stabile Lage langfristig halten kann, oder ob sie von der Ungleichheit auseinandergerissen wird.
Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts sorgte für tiefgreifende technische Erneuerungen, die unser Leben einfacher und reicher machen. Es kommt aber nicht nur auf den entstandenen absoluten Wohlstand an. Wenn sich in den Händen weniger Menschen immer mehr Geld konzentriert, kann die demokratische Idee von Gleichheit ins Wanken geraten. Denn mit einer Menge Geld geht eine Menge Einfluss und Macht einher. Auf der anderen Seite können weite Teile der Gesellschaft an Einfluss verlieren, während sie sich zuerst um ihr wirtschaftliches Überleben sorgen muss, bevor sie sich politisch organisieren kann. Bei der sich derzeitig verfestigenden Ungleichheit und untätigen Politik, leidet nicht nur die vernachlässigte Unterschicht. Selbst für große Teile der Mittelschicht scheint das Aufstiegsversprechen des Kapitalismus zum zerplatzenden Traum zu werden.
Quellen:
1 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/07/PD21_331_12621.html
2 https://www.dgb.de/++co++365a306a-a7a6-11e9-96a8-52540088cada
5 https://wid.world/country/germany/
7 https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Startseite/start.html
8 https://www.oxfam.de/ueber-uns/publikationen/gewaltige-ungleichheit-fehler-liegt-system
11 https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008182/p_wsi_report_69_2021.pdf