Eine Generation ohne Zukunft?

Teasertext: Laut vielen jungen Klimaaktivist*innen haben sie keine Zukunft mehr, deshalb üben sie zivilen Ungehorsam aus. Ist diese Protestform berechtigt? Und werden die Sorgen und Ängste dieser Aktivist*innen von der Politik zu wenig ernst genommen?

Klima / Aktivismus

von Johanna W am 27. Juni 2022

Fotografie von Johanna W

Im Mai 2018 wurde die Bewegung Extinction Rebellion (XR) in London gegründet und schon am 31. Oktober gab es die ersten Proteste auf dem Paliament Square, denn laut der Bewegung muss die Wahrheit gesagt werden. Die Regierung muss das Ausmaß der Klimakatastrophe anerkennen. Die Proteste der letzten 30 Jahre zeigten keine Wirkung. Durch den zivilen Ungehorsam sollte jetzt die Ordnung gestört und dadurch Druck auf die Politik erzeugt werden. Störung als Mittel, um öffentlichen Druck aufzubauen und auch um die Politik unter Druck zu setzen.

Für den Be­griff zi­vi­ler Un­ge­hor­sam gibt es vie­le De­fi­ni­tio­nen.


So ist zum Beispiel ziviler Ungehorsam laut dem Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas ein moralisch begründeter Protest, der die absichtliche Verletzung einzelner Gesetze mit einschließt.
Außerdem ist die Regelverletzung nur symbolisch und daraus ergibt sich auch die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel. Doch der Aktivist und Geschichtsprofessor Howard Zinn definiert den Begriff des zivilen Ungehorsams als „die überlegte und gezielte Übertretung von Gesetzen um dringender gesellschaftlicher Ziele willen“.

Auch die Begründungen sind unterschiedlich. So rechtfertigt z.B. der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau Mitte des 19 Jhd. den zivilen Ungehorsam so: „Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen und das ist, jederzeit zu tun, was mir gerecht scheint“. Die Philosophen John Rawls und Jürgen Habermas sagen hingegen, dass die moralische Begründung jenseits „privater Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen“ liegen muss.
Trotzdem sind sich alle drei in einer Sache einig, nämlich dass ziviler Ungehorsam nur eine Ausnahme vom ansonsten grundlegendem Gehorsam gegenüber dem Staat sei.
Die Proteste der Bewegung sind nicht nur bunt, sondern auch gewaltfrei. In der Wissenschaft ist das Thema Gewaltfreiheit ein Streitpunkt. Denn ab wann gilt ein Protest als gewaltfrei? Ist z.B. Sachbeschädigung Gewalt? Oder wird die Gewaltfreiheit nur auf die Unversehrtheit von Menschen bezogen? Laut Extinction Rebellion schließt Gewaltfreiheit auch ein, keine Sachen zu beschädigen.

Ein Mäd­chen aus Schwe­den

Fast gleichzeitig zur Gründung von Extinction Rebellion fängt auch ein Mädchen aus Schweden an jeden Freitag vor dem Parlament in Stockholm für eine bessere Zukunft zu streiken. Es ist Greta Thunberg und mit ihren Protest startet sie eine der größten Klimabewegungen weltweit: Fridays For Future (FFF). Im Gegensatz zu Extinction Rebellion beruft sich FFF auf angemeldete, legale Demonstrationen, die also erst mal keine Gesetzesübertretung vorsehen.
Genau dieser Art von Demonstration hat XR eine Absage erteilt, weil die „herkömmlichen Proteste“ keine Wirkung gezeigt haben. Ziviler Ungehorsam ist radikaler. Eine Radikalität, die Olaf Scholz bei dem Katholikentag 2022 mit Zeiten verglich, „die wir in Deutschland schon längst überwunden haben“. Auf diesem Katholikentag nahm Olaf Scholz an einer Podiumsdiskussion teil. Er sprach gerade über den Ausstieg aus der Kohleverstromung, als ein Aktivist versuchte die Bühne zu stürmen, während ein anderer Aktivist laut „Schwachsinn“ rief. Seine Antwort auf diese Unterbrechung war unter anderem dieser oben genannte Vergleich.
Für diesen Vergleich wurde er später stark kritisiert. Vor allem weil keiner so genau wusste, welche Zeiten er denn jetzt meinte. Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer warf ihm vor, diese Aktion mit der Nazi-Zeit verglichen zu haben. Damit relativiere er nicht nur die NS-Herrschaft, sondern auch die Klimakrise, so Neubauer auf Twitter.
Doch was heißt Radikalität? Und ist das wirklich was Schlimmes? Müssten wir nicht eigentlich alle auf die Straße gehen und demonstrieren? Gerade erst wurde ein neuer Weltklimabericht veröffentlicht, der vor den Folgen des Klimawandels erneut warnt. Es darf ein weiter so nicht geben, sagen die Wissenschaftler*innen und auch die Aktivist*innen von XR. Trotzdem sind viele Menschen von diesen Protestformen des zivilen Ungehorsams abgeneigt.

Staus bil­den sich, weil die Stra­ße blo­ckiert wird.


Ich komme zu spät zur Arbeit, weil sich Menschen an der Autobahnbrücke festkleben und dann werde ich noch kritisiert, weil ich ein SUV fahre. Klimaschutz schön und gut, aber bitte doch nicht wenn mein eigenes Leben dadurch eingeschränkt wird. Ich bin ja schließlich nicht die Person, die im klimatisierten Regierungsgebäude sitzt und Maßnahmen für die Autoindustrie beschließt.
Die Toleranz für zivilen Ungehorsam hört wohl dann auf, wenn das eigene, individuelle Leben dadurch eingeschränkt wird.

Ein weiteres Beispiel: Ende Mai hat ein als alte Frau verkleideter Mann eine Torte auf die Mona Lisa geworfen. Nach der Aktion rief er auf Französisch: „Alle Künstler denkt an die Erde. Deswegen habe ich das gemacht. Denkt an den Planeten“. Die Aktion wurde später eher belächelt. Aber vielleicht wären die Reaktionen ganz anders ausgefallen, hätte die Torte die Mona Lisa tatsächlich beschädigt. Kunsthändler*innen hätten sich gemeldet, Fans von Leonardo da Vinci, Politiker*innen. Das berühmteste Gemälde der Welt beschädigt? Ein Skandal!

Da hört zi­vi­ler Un­ge­hor­sam auf – oder?


Denn FridaysforFuture zeigt doch, dass es auch anders geht. Ohne Beschädigung von teuren Gemälden. Eine Bewegung, die es mit ihrem friedlichen Protest geschafft hat, das Thema wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.
Es scheint fast eine ganze Jugendgeneration zu sein, die ohne zivilen Ungehorsam jeden Freitag demonstriert. Eine Jugend „ohne (die) es überhaupt kein(en) Green Deal gäbe“, sagt der EU Kommissar für Klimaschutz Frans Timmermanns in einem Interview der Heute Show vom 2. Juli 2021. Es ist also eine Jugend, die etwas bewirkt und auch eine Jugend, die mit ihrem friedlichen Protest akzeptiert wird. Im Gegensatz zu Extinction Rebellionen, die mit ihren Aktionen vielen immer wieder sauer aufstößt. Es scheint so, als müsste es gar keinen zivilen Ungehorsam geben. Dann würde auch keiner mehr aufgrund der Proteste zu spät zur Arbeit kommen.

Doch dann wird wieder ein neuer Weltklimabericht veröffentlicht, der immer noch sagt, dass die Politik zu wenig tut. Dann wird ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht gefällt, das besagt, dass das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung nachgebessert werden muss.
Es ist also doch nicht genug.
Vielleicht ist genau dieses „niemals genug“ einer der Gründe, warum Olaf Scholz so genervt reagierte hat, beim Katholikentag.
Vielleicht ist Olaf Scholz müde von der immer gleichen Diskussion, die er auch schon als Finanzminister mitbekommen hat.
Und genau deswegen braucht es doch zivilen Ungehorsam. Um zu nerven. Um immer wieder Salz in die Wunde zu streuen. Gerade in Momenten, an denen es nicht passt.
Beim Katholikentag, bei der alltäglichen Fahrt zu Arbeit, beim Besuch des Louvre. Genervt und wütend auf die Bewegung sein und dadurch wenigsten einmal mit Klimaschutz und den Sorgen der Jugendlichen konfrontiert werden.

FridaysforFuture hat es mitunter geschafft Klimaschutz vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu stoßen. Ziviler Ungehorsam pikst jetzt mit der Nadel des schlechten Gewissens immer und immer wieder in die Arme der Politiker*innen, damit nicht nur Kompromisse geschaffen werden, sondern Lösungen. Olaf Scholz scheint müde von dem andauernden Piksen zu sein.

Aber war­um nicht auf­ge­ben?


Aber warum geben die Klimaaktivist*innen nicht auf? Warum halten sie an ihren Forderungen fest? Vielleicht ist es eine grundlegende Sorge um ihre Zukunft.
Eine Sorge, die durch die immer fortschreitende Klimakrise entstanden ist.
Durch den Hitzesommer 2018.
Durch die Flutkatastrophe 2021.
Eine Sorge, die Olaf Scholz, laut der Klimaökonomin Claudia Kemfert, mit der Aussage auf dem Katholikentag nicht ausreichend ernst genommen hat.
Eine Sorge, die Jugendliche zum zivilen Ungehorsam oder zum Hungerstreik treiben kann.
Eine Sorge, die beunruhigender ist, als die Fünf in Mathe, die man wegen der andauernden Abwesenheit am Freitag bekommen hat.
Eine Sorge, die zivilen Ungehorsam legitimiert.

Radikalität und ziviler Ungehorsam als Ausdruck von Angst um die Zukunft…
Eine Angst, die der Bundeskanzler ernst nehmen muss.
Er darf diese Diskussion nicht abwürgen. Auch er muss diese Sorgen teilen und entsprechend dieser Sorgen handeln.

Denn diese Sorgen sind real. Diese Ängste auch.

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