Warum wirklich jede Kirche Leichen im Keller hat

Was haben die Knochen des Apostel Petrus, die Hälfte des Herzens von Laurentius von Brindisi und die Rippen vom Nikolaus gemeinsam? Genau, sie gelten als Reliquien, also als glorifizierte Leichenteile, die von der katholischen/orthodoxen Kirche als Überreste Heiliger in eine Kirche verbaut werden. Es gilt der Grundsatz: Ohne Reliquie keine Kirche. Aus heutiger Sicht ein merkwürdig anmutender Brauch, im Grunde aber sehr bezeichnend für die überholten Ansichtsweisen, die die Kirchen der Gesellschaft aufzudrücken versuchen.

Gesellschaft / Probleme & Lösungen

von Zagros H am 27. Juni 2022

Symbolbild, Bildquelle: Pixabay

Als Körperschaften des öffentlichen Rechts nehmen die Kirchen in Deutschland öffentliche Aufgaben wahr. So wie die Krankenkassen, die sich um die Gesundheitsversorgung kümmern und die Handwerkskammern, die für ordentliche Ausbildungen verantwortlich sind, sollen die Kirchen für den Staat an dem Seelenheil der Menschen wirken. Dafür bekommen sie vom Staat auch Geld in Form der Kirchensteuer durch die Kirchenmitglieder, also getauften Menschen, die nicht ausgetreten sind; im Jahr 2020 ca. 12 Milliarden Euro für die evangelische und katholische Kirche zusammen. Da dürfen Menschen sich durchaus die Frage stellen, was die Kirchen mit so viel Geld anstellen und welchen Mehrwert sie den Steuerzahlenden bieten. Und vor allem dürfen sich die Menschen auch die Frage stellen: Könnten wir das Ganze nicht auch deutlich billiger und ohne diverse Skandale bekommen, wenn wir die Aufgaben an eine Stelle weitergeben, die ohne spirituelle Färbung einfach nur ihre Aufgaben erledigt?

Zum Vergleich: Laut Welternährungsorganisation könnte der weltweite Hunger mit 14 Milliarden Euro pro Jahr mehr an Spenden effektiv eingedämmt werden. Also, was tun die Kirchen alles für das Seelenheil der Deutschen, das es Wert ist, nicht alternativ den Hunger auf der Welt beinahe vollständig zu beenden?

Die selbst gesetzte Hauptaufgabe der Kirchen besteht darin, das Wort Jesu Christi zu verbreiten. Dies ist für eine religiöse Instanz zwar selbstverständlich, ist aber eben eine Frage des eigenen Glaubens und bietet damit nicht automatisch einen Mehrwert, der der Allgemeinheit zugutekommt. Daneben sind die wichtigsten gemeinnützigen Aufgaben der Kirche die Diakonie, also die Wahrnehmung sozialer Verantwortung – wie die Altenpflege oder die Kinderbetreuung – und die Communio, also die Errichtung und der Erhalt einer Gemeinschaft (der Gläubigen). Vor einigen Jahrzehnten und vielleicht sogar heute noch in wenigen winzigen Dörfern, wo das Konzept der Volkskirche weiterhin gelebt wird, mag ihr die Bildung einer sozialen Gemeinschaft sogar noch teilweise gelingen. Jedoch lässt sich im Großen und Ganzen feststellen, dass diese Funktion inzwischen beinahe völlig von anderen säkularen Instanzen wie Schulen, (Sport-)vereinen oder auch einfach nur dem Arbeitsplatz ausgefüllt wird. So ist beispielsweise der Anteil an Kirchenmitgliedern innerhalb der Gesellschaft von 72% in 1990 auf 49% in 2021 gefallen.

Somit bleibt die einzige Funktion der Kirche, die einen wirklichen Mehrwert für die Gesellschaft bildet, die Diakonie, welche zusammen mit der Betreuung der Kindertagesstätten z.B. bei der evangelischen Kirche ca. 23,6% der kirchlichen Ausgaben ausmacht. Wenn das Bildungswesen und die Wissenschaft – welche auch einen potentiellen Mehrwert bilden können – mit berücksichtigt werden, erhöht sich der Anteil auf 26,3%. Der Rest fließt vor allem in Pfarrdienste, Gemeindearbeit, Verwaltung und die Pflege der kirchlichen Gebäude und Grundstücke. Das heißt, es werden ca. drei Viertel der Kirchensteuer für Dinge ausgegeben, deren gesellschaftlicher Mehrwert mindestens fraglich ist. Ein Unternehmen, welches drei Viertel seiner Gelder verschwendet, würde sich vermutlich nicht lange am Markt halten. Jetzt könnte argumentiert werden, dass die Kirche öffentliche Aufgaben wahrnimmt und als solche das Kriterium der Effizienz überhaupt nicht gegeben sei. Vielmehr müsste darauf geschaut werden, welchen Mehrwert sie der Gesellschaft biete. Und diesen bietet sie. Ohne die Kirchen gäbe es viele Pflegeheime, Kindergärten, Krankenhäuser und Schulen gar nicht. Doch ließe sich das alles ohne den religiösen Anstrich deutlich günstiger organisieren.

Und die geistlichen Mehrwerte, die die Kirchen den Menschen bieten, werden aufgewogen durch diverse Skandale, durch die in grässlichster Weise vorbelastete Geschichte und durch das eigene Selbstverständnis, welches aus heutiger Sicht schon sehr fragwürdig ist. Da geht es nicht erst bei der oben beschriebenen Eigenart los, Leichenteile als heilige und verehrungswürdige Dinge zu betrachten, die die Grundlage eines jeden feststehenden Altars bilden, sondern bei ganz realen Skandalen, die die Leben tausender von Menschen nachhaltig geschädigt haben und bei denen sich die Kirchen teilweise bis heute weigern, auch nur eine Schuld einzugestehen.

Dies geht bei handfesten Verbrechen wie den Missbräuchen in der katholischen und evangelischen Kirche los, welche die Kirchen seit 2010 – als diese der Öffentlichkeit bekannt wurden – nicht effektiv aufarbeiten konnten oder wollten. Teilweise wurden sogar des Missbrauchs überführte Kleriker wieder in der Seelsorge eingesetzt, wo sie sich um Menschen in den verletzlichsten Lebenslagen kümmern sollten. Auch gibt es als exemplarisches Beispiel einen Priester, der in Unterfranken nachweislich bis 2010 ca. eine Millionen Euro an Spendengeldern veruntreut hat.

Als ob all diese Fehler, die die Kirchen offiziell verurteilen (auch wenn sie erschreckend wenig zu deren Aufarbeiten beitragen) nicht ausreichen, geht es sogar noch weiter mit grausamen Skandalen, hinter denen diese mit vollem Selbstbewusstsein stand. So wurde bis 2013 in katholischen Krankenhäusern die Pille danach Patientinnen verweigert, selbst in Fällen von Vergewaltigungen.

Historische Skandale wie Hexenverbrennungen, Ablasshandel und Vetternwirtschaft, welche sich durch die gesamte Geschichte der Kirchen ziehen und ein deutliches Muster in ihrer mangelhaften moralischen Ausrichtung erkennen lassen, sollen hier gar nicht diskutiert werden. Denn selbst wenn die Kirchen sich an ihre Grundsätze halten, so richten sie gesellschaftlich mindestens so viel Schaden an, wie sie denn nutzen. So werden Menschen aus dem LGBTIQ-Spektrum bis heute maßgeblich diskriminiert, sei es bei der Weigerung der katholischen Kirche, homosexuelle Paare zu verheiraten oder bei der Empfehlung von Papst Franziskus im Jahr 2018, Kinder mit homosexuellen Neigung psychiatrisch zu behandeln.

Das heißt, hoch offiziell mit dem Auftrag für das Seelenheil der Menschen zu sorgen legitimiert, mit Steuergeldern ausgestattet und mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger bewaffnet, stellen sich ganze Institutionen hin und wagen es, selbst im Jahr 2022, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Vorlieben und ihrer geschlechtlichen Identität zu diskriminieren.

Doch nicht nur die katholische Kirche lässt Zweifel an ihrer Fähigkeit erkennen, ein moralischer Ratgeber für die moderne Gesellschaft zu sein. Selbst die evangelische Kirche, die in Deutschland einen etwas besseren Ruf genießt und hierzulande gemäßigter auftritt, hat international betrachtet deutlich gezeigt, dass sie eben solche Probleme hat. So haben insbesondere evangelikale Gruppen, die zwar in Deutschland eher eine Randerscheinung darstellen, in den USA jedoch maßgeblich den politischen Ton mitdiktieren können, die republikanische Partei so stark mit ihrer Abtreibungsgegnerschaft geprägt, dass es heute kaum eine relevante Stimme mehr innerhalb der Partei gibt, die sich nicht “pro-life” gibt. Auch haben sich insbesondere weiße Evangelikale mit Donald Trump solidarisiert, der während seiner gesamten Amtszeit durch einen moralischen Tabubruch nach dem anderen auffiel.

Das enorme Gewicht dieser Bewegung wird unter anderem bei einem Blick auf die aktuelle gesetzliche Entwicklung zum Thema Abtreibungen in den USA klar. Von den neun Richter*innen des US – Supreme Courts wurden in Donald Trumps Amtszeit drei neu besetzt. Diese hat er, um seiner evangelikalen Stammwähler*innenschaft zu gefallen, explizit auch nach ihren Meinungen zum Thema Abtreibungen ausgewählt. Eine davon, Amy Coney Barrett, ist selbst gläubige Christin und gilt als mit Abstand konservativste Richterin am Gericht und als entschiedene Abtreibungsgegnerin. Sie argumentierte bereits in der Vergangenheit, wenn es schon nicht möglich sei, Abtreibungen zum damaligen Zeitpunkt zu verbieten, wenigstens die Finanzierung dieser durch staatliche Gelder zu unterbinden. Hier wird deutlich, wie schädlich und gefährlich der Einfluss einer religiösen Gruppierung sein kann, die der Mehrheitsgesellschaft ihre Wertvorstellungen aufdrücken kann. Eine Summe, die beinahe den gesamten Welthunger beenden könnte, wird jedes Jahr in die Arbeit dieser Institutionen gesteckt. Alleine daher hätte es schon sehr gewichtige moralische und politische Gründe geben müssen, um eine solche Prioritätensetzung zu rechtfertigen. Doch scheinen diese Organisationen selbst einfachsten moralischen Ansprüchen nur sehr schwer zu genügen. Ob diese Aufteilung den biblischen Lehren von Nächstenliebe und Barmherzigkeit entspricht, sollten die Gottesleute für sich selbst entscheiden, doch aus der weltlichen Betrachtung heraus bieten die Kirchen heutzutage nur noch eine Mischung aus teilweise sehr schönen Gebäuden, veralteten und merkwürdig anmutenden Ritualen und einer ganzen Menge von sehr fragwürdigen moralischen Einstellungen und Verhaltensweisen. Zwar vergraben nur katholische und orthodoxe Kirchen Reliquien, um ihre Gebetsstätten zu weihen, doch hat im metaphorischen Sinne wirklich jede Kirche Leichen in ihrem Keller.

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